Stahlmarkt Consult Blog
Posse um Ilva-Werk Taranto sorgt für Verunsicherung bei Preisgesprächen
Die Zukunft des integrierten Stahlwerkes Taranto der italienischen Ilva-Gruppe sorgt derzeit für große Verunsicherung auch bei deutschen Stahlkunden. Groß ist die Aufregung, nachdem Anfang dieser Woche gemeldet wurde, dass der gesamte in den vergangenen vier Monaten erzeugte Stahl des Werkes beschlagnahmt worden sei und nicht an Kunden ausgeliefert werden darf. Sieben führende Manager des Unternehmens seien unter Hausarrest gestellt und die Produktion gestoppt worden, hieß es in Meldungen.
Dies klingt zunächst einmal sehr dramatisch. Immerhin wurden in Taranto 2011 ca. 8,5 Mio. Tonnen Rohstahl erzeugt. Bei einem Ausfall des größten integrierten Stahlwerks in der EU wäre nicht nur die Versorgung des italienischen Marktes mit Flachstahl ernsthaft in Frage gestellt, sondern die hieraus resultierenden Verwerfungen wären auf dem gesamten europäischen Markt zu spüren und würden zweifellos zu einem starken Preisanstieg führen.
Schon glauben manche Stahlanbieter auch in Deutschland, endlich das große und starke Argument für die vielen derzeit laufenden Vertrags- und Preisgespräche zu haben, das ihnen zuletzt oft fehlte. Angebote werden zurück gezogen, die Stimmung wird aufgeregter.
Bei genauerer Betrachtung scheinen die Meldungen von Anfang der Woche aber nicht mehr als ein neuer Akt in einem seit Monaten andauernden Possenspiel zu sein. Seit Juli hängt das Damoklesschwert der Schließung über dem Stahlwerk. Grund sind im Kern behauptete Verstöße gegen Umweltvorschriften und damit in Verbindung gebrachte Krankheits- und Todesfälle in der Bevölkerung. Zuletzt kamen Korruptionsvorwürfe gegen Ilva-Manager dazu. Die Richterin, die für die Anordnung vom Montag verantwortlich war, hat bereits Ende Juli die Schließung der „warmen Phase“ der Stahlwerksanlage verfügt. Seitdem gibt es ein ständiges Hin und Her von Anordnungen, Widersprüchen, Verhandlungen, Plänen, Einigungen und neuen Anordnungen.
Neben den lokalen Umwelt- und Strafverfolgungsbehörden ist auch die Zentralregierung in Rom involviert, die mehrfach betont hat, man werde den Stahl-Standort Taranto erhalten. Immerhin steht nicht nur die Versorgung der italienischen stahlverarbeitenden Industrie, sondern auch 20.000 Arbeitsplätze in einer Region mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit auf dem Spiel. Für heute ist ein Krisentreffen des italienischen Ministerpräsidenten Monti mit Gewerkschaften und Unternehmensvertretern geplant. Außerdem soll das Kabinett noch in dieser Woche ein Dekret verabschieden, das den Weiterbetrieb der Stahlwerksanlage (unter Auflagen) sicherstellt.
„We are trying to implement what we have already decided“ – so wird Italiens Umweltminister von der Nachrichtenagentur Reuters zitiert. Wenn die Angelegenheit nicht so ernst wäre, könnte man darüber lachen.
Die deutsche Presse berichtet nur vereinzelt und nicht immer detailverliebt über das Geschehen und es ist äußerst schwer, einen Überblick über den tatsächlichen Stand zu behalten. Entgegen mancher anders lautenden Meldung scheinen derzeit zum Beispiel „nur“ die von ILVA selbst gestoppten Kaltwalz- oder andere Weiterverarbeitungsanlagen stillzustehen, nicht aber die Hochofenanlagen.
Für alle, die derzeit Preisverhandlungen führen, kann es nur heißen: kühlen Kopf bewahren! Es ist extrem wahrscheinlich, dass die richterliche Verfügung vom Montag nicht das letzte Wort ist. Es ist einfach nicht vorstellbar, dass keine Lösung gefunden wird, die den Standort Taranto erhält. Es mag sein, dass die Stahlherstellung aufgrund von zu erfüllenden Auflagen und nötigen Investitionen verteuert oder mengenmäßig begrenzt werden wird. Es mag auch sein, dass die unwürdige Hängepartie noch weitere Monate fortgeführt wird. Aber jetzt mit Schreckensszenarien zu arbeiten, ist nicht seriös.
© StahlmarktConsult Andreas Schneider. Nachdruck und Verwendung mit Quellenangabe ist erlaubt.