Stahlmarkt Consult Blog

In meinem Stahlmarkt-Blog befasse ich mich mit Neuigkeiten aus der Stahlmarkt-Welt und analysiere Trends und Marktentwicklungen.

Grüner Stahl: Umbau gewinnt an Fahrt, Verarbeiter sind gefordert

Die Transformation der EU-Stahlindustrie gewinnt an Tempo. Auch wenn wichtige politische Randbedingungen noch nicht klar sind, straffen viele Hersteller ihre Zeitpläne und kündigen konkrete Projekte an. Ähnlich wie bei der Elektromobilität könnte der Wandel schneller kommen als viele Marktteilnehmer denken. Schon 2024 könnten die ersten Tonnen an wirklich grünem Stahl hergestellt werden. Allerdings wird der vollständige Umbau sehr viel länger dauern. Wettbewerbspositionen in der Wertschöpfungskette Stahl werden sich in den kommenden Jahren stark verändern. Stahlverarbeiter müssen sich jetzt mit den strategischen Folgen des Änderungsprozesses für das eigene Unternehmen beschäftigen.

Grüner Stahl liegt nicht in allzu ferner Zukunft
Bereits heute wird „grüner“ Stahl vermarktet. Dabei handelt es sich aber in Wirklichkeit lediglich um CO2-reduzierten Stahl, wobei die Reduzierung des CO2-Gehalts in der Regel gegenüber einer vom jeweiligen Hersteller definierten eigenen Ausgangsbasis berechnet wird. Die Verminderung kann durch technische Maßnahmen und Effizienzsteigerungen im bestehenden Prozess, durch eine (partielle) Umstellung des Erzeugungsverfahrens oder durch spezielle Bilanzierungen für besondere Erzeugnisse erreicht werden. Es gibt leider nach wie vor keinen anerkannten Branchenstandard dazu, ab welchem spezifischen CO2-Ausstoß eine Tonne Stahl als „grün“ gelten kann. Ebenso fehlt es immer noch an Transparenz zu den erzeugnisspezifischen, aktuellen CO2-Ausstößen der einzelnen Werke. Die Unterschiede zwischen der besten und der schlechtesten EU-Anlage sind beträchtlich.

Wirklich grüner Stahl mit einem CO2-Ausstoß nahe Null wird nach heutigem Stand unter Einsatz von Wasserstoff und grüner Energie im Direktreduktionsverfahren mit nachgeschaltetem Stahlwerk hergestellt werden. Vor nicht allzu langer Zeit wurde in der EU eine solche Produktion in nennenswertem Umfang erst ab 2030 erwartet. Mehrere Hersteller haben zuletzt aber ihre Zeitpläne gestrafft und mit konkreten Projekten verbunden. Neben dem schwedischen Newcomer H2Green Steel haben auch SSAB für Werke in Schweden und Finnland, die deutsche Salzgitter AG und Marktführer ArcelorMittal an Standorten in Belgien, Frankreich und Spanien konkrete Investitions- und Zeitpläne bekannt gegeben. Sollten die Ankündigungen Realität werden, könnten die ersten Anlagen zur Produktion vonn grünem Flachstahl schon 2024 anlaufen. Es scheint nicht mehr ausgeschlossen, dass bereits im Jahr 2027 ca. 10 Mio. Tonnen in der EU produziert werden.

Umbau kommt in unterschiedlichen Geschwindigkeiten
Ein wichtiger Treiber der Beschleunigung ist der wachsende politische Druck, der vom „Fit for 55“-Programm der EU ausgeht. Im Zuge der Diskussion um die Einführung eines CO2-Grenzausgleichs wird es zudem immer wahrscheinlicher, dass das bisherige System der weitgehend kostenfreien Zuteilung von CO2-Emissionszertifikaten für Stahlerzeuger sehr viel früher als bisher geplant auslaufen wird. Nach einem aktuellen Vorschlag des EU-Parlaments sollen die benötigten Zertifikate bereits ab 2029 zu 100% erworben werden müssen. Gleichzeitig haben sich die Preise der EU-Zertifikate im vergangenen Jahr fast verdreifacht. Selbst wenn die Zertifikatspreise 2029 noch auf dem derzeitigen Niveau von ca. 90,- €/t liegen, könnten sich die Herstellkosten von konventionellem Stahl der Hochofenroute um fast 200,- €/t verteuern. Dies liegt nicht so weit entfernt von den erwarteten Mehrkosten für grünen Stahl, der damit an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewinnt. Zudem sieht es so aus, dass die erste Welle des CO2-freien Stahls einen reißenden Absatz finden wird. Große Abnehmer vor allem aus der Automobil- und Konsumgüterindustrie benötigen grünen Stahl, um ihre eigenen Minderungsziele zu erreichen. Sie spezifizieren ihre Bedarfe und Anforderungen und sichern sich bereits jetzt ihre Kontingente oder gehen sogar strategische Partnerschaften mit Stahlherstellern ein.   

Bei aller Dynamik in einzelnen Projekten darf nicht übersehen werden, dass der Umbau in der Breite des Marktes noch sehr viel mehr Zeit benötigt und von zahlreichen Randbedingungen beeinflusst wird. Politisch gehört dazu der Umfang der (zulässigen) staatlichen Förderung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des EU-Beihilferechts. Auch die Frage, ob grüner Strom in den benötigten Mengen und zu akzeptablen Preisen rechtzeitig zur Verfügung steht und wie schnell die erforderliche Wasserstoffinfrastruktur aufgebaut werden kann, harrt in vielen Ländern einer belastbaren Antwort. Herstellerseitig spielt neben der Finanzkraft und den lokalen Standortbedingungen auch das Alter der vorhandenen Anlagen und die Kundenstruktur eine gewichtige Rolle. Je nach Abnehmerbereich und Zielregion fallen Bedarfe und Zahlungsbereitschaft für grünen Stahl unterschiedlich aus, soweit sie überhaupt schon absehbar sind.

Daher spricht alles dafür, dass der Umbau in unterschiedlichen Geschwindigkeiten stattfinden wird. Die angestrebte CO2-Neutralität wird in der Breite der Branche nicht vor 2045 oder 2050 zu erreichen sein. Bis dahin werden ein wachsender Markt an grünem Stahl und ein schrumpfender Markt an konventionellem Stahl nebeneinander existieren.

Verarbeiter müssen strategische Planung voran treiben
Klar ist auch, dass keine andere Region den Klimaumbau dermaßen mit der Brechstange angeht wie die EU. Zwar gibt es auch in anderen Regionen ambitionierte Pläne zur Dekarbonisierung, diese sind aber weniger radikal und scheinen mehr vom Machbaren als vom Gewünschten auszugehen. Ob grüner Stahl aus der EU am Ende schneller und günstiger zu haben sein wird als aus anderen Ländern, bleibt abzuwarten. Konventioneller Stahl, egal ob in der EU hergestellt oder importiert, wird aber sehr wahrscheinlich in wenigen Jahren nirgendwo so teuer sein wie in der EU. Dadurch werden sich internationale Wettbewerbspositionen für die gesamte Wertschöpfungskette Stahl in den kommenden Jahren mit rasanter Geschwindigkeit ändern.

Stahlverarbeiter müssen diese Veränderungen antizipieren und sich jetzt mit den Folgen für das eigene Unternehmen beschäftigen. Grundsätzlich wichtig ist Klarheit darüber, ob sich ein Unternehmen kurz- und mittelfristig eher im Bereich des grünen oder des konventionellen Stahls bewegen will oder muss. Dies hängt vor allem davon ab, ob der CO2-Fußabdruck auf scope 3-Ebene, der die indirekten Emissionen aus der Lieferkette enthält, in absehbarer Zeit die eigene Marktposition beeinflussen wird.

Ist dies der Fall, benötigen Unternehmen schnell eine detaillierte Bestandsaufnahme, wie hoch der CO2-Fußabdruck der bezogenen Stahlerzeugnisse bei den einzelnen Lieferanten heute ist. Für die eigenen Erzeugnisse, bei Zulieferern in enger Abstimmung mit den Kunden, ist eine Klärung der Frage erforderlich, ob, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang eine Reduzierung des Scope 3-Fußabdrucks erforderlich ist. Dann muss mit bestehenden oder potenziellen Lieferanten ein entsprechender Fahrplan erarbeitet werden, um die Vorgaben erfüllen zu können. Gerade in der ersten Hochlaufphase dürfte grüner Stahl ein begehrtes und knappes Gut werden, das schwer zu beschaffen sein wird.

Auch Unternehmen, in deren Märkten der CO2-Fußabdruck (noch) kein relevanter Wettbewerbsfaktor ist, sollten sich mit den bevorstehenden Umwälzungen befassen. Denn heutige Geschäftsmodelle könnten sich schon in wenigen Jahren als nicht mehr tragfähig erweisen. Aktuell ist kein Plan erkennbar, mit dem die durch die CO2-Bepreisung in der EU resultierenden Kostennachteile beim Export in Drittländer kompensiert werden sollen. Wenn die Politik dazu keine Lösung findet, dürfte die exportorientierte metallverarbeitende Industrie in der EU in den kommenden Jahren in größte Schwierigkeiten geraten. Zudem hat die Diskussion darüber, an welcher Stelle der oft mehrteiligen Wertschöpfungskette der zu erwartende Kostenschub getragen wird, noch nicht einmal richtig begonnen.

© StahlmarktConsult Andreas Schneider. Verwendung nur mit Quellenangabe erlaubt.

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