Stahlmarkt Consult Blog

In meinem Stahlmarkt-Blog befasse ich mich mit Neuigkeiten aus der Stahlmarkt-Welt und analysiere Trends und Marktentwicklungen.

LEES – was bringt der neue Standard für „grünen“ Stahl?

Während allenthalben von „grünem“ Stahl die Rede ist, mangelt es an einer klaren Definition, was genau darunter zu verstehen ist. Die inflationäre Verwendung des Begriffs für unterschiedliche Sachverhalte ist ein echtes Hindernis für den Markthochlauf von CO2-reduzierten Stählen. Der deutsche Herstellerverband Wirtschaftsvereinigung Stahl hat im April einen neuen Standard zur Klassifikation von CO2-reduziertem Stahl vorgestellt, der noch in diesem Jahr am Markt eingeführt soll. Der Low Emission Steel Standard (LESS) soll eine standardisierte Klassifizierung von emissionsreduzierten Stählen ermöglichen.  Die gut ausgearbeitete Methodik ist ein Fortschritt, birgt aufgrund der starken Gewichtung der Schrottquote aber für Stahlverarbeiter auch Stolpersteine. Daher ist es offen, in welchen Bereichen des Marktes sich das Label durchsetzen wird. In jedem Fall tun Stahlverarbeiter gut daran, sich intensiv mit den Feinheiten der CO2-Bilanzierung von Stahl zu beschäftigen.

Das ausführliche Regelbuch für LESS umfasst 81 Seiten. Schon dies zeigt, dass der neue Standard gründlich und methodisch sauber erarbeitet wurde. Viele Fragen, die rund um die CO2-Bilanzierung von Stahl auftauchen, werden beantwortet. So wird eine klare Scope-Abgrenzung vorgenommen, wobei ein umfassender „cradle-to-gate“-Ansatz gewählt wird. Ein großer Vorteil gegenüber anderen Ansätzen ist es, dass sich das Klassifizierungssystem auf definierte warmgewalzte Erzeugnisse bezieht. Dies ist deutlich näher am Kunden und aussagefähiger als die häufig angewendete Bilanzierung auf der Ebene Rohstahl. Erfasst ist allerdings nur Walzstahl bis zur einmaligen Erwärmung, weitere Bearbeitungsschritte wie das Kaltwalzen oder Verzinken fließen nicht in die Bilanzierung ein.

Ebenfalls ein großer Fortschritt liegt in der Festlegung von Referenzgüten. Denn obwohl die Güte eines Erzeugnisses großen Einfluss auf den Carbon Footprint hat, wird dies in bisherigen Ansätzen kaum berücksichtigt. Im LEES wird zwischen Bau- und Betonstahl einerseits und Qualitätsstahl andererseits unterschieden, wobei für Letzteren die Stahlgüten C22 für die Primärroute und C45 für die Sekundärroute als Referenzgüte definiert sind. Scope 3.1-Emissionen aus Legierungsmitteln, die über die Emissionen der Referenzprodukte hinausgehen, werden zur Bildung eines Äquivalenzwertes vollständig herausgerechnet. Dies erhöht die Vergleichbarkeit, lässt aber Güten mit höheren Emissionen besser aussehen als sie es tatsächlich sind.

Die entscheidende Neuerung gegenüber bisherigen Klassifizierungen ist die Anwendung einer sogenannten „Sliding Scale“.  Die Bewertung des Stahls hängt nicht nur von seiner CO2-Intensität, sondern auch vom Schrottanteil bei der Stahlherstellung ab.  Hierzu wurde eine gleitende Skala gebildet, die für jede Kombination aus Schrottquote und CO2-Intensität eine Zuordnung in eine Klassifikationsstufe ermöglicht. Das führt dazu, dass eine im integrierten Hüttenwerk mit einer Schrottquote von 20% hergestellte Tonne Qualitätsstahl die Klassifikationsstufe „D“ mit CO2-Emissionen von 2.250kg CO2e/Tonne und die beste Stufe „Near Zero“ mit 450kg CO2e/Tonne erreicht. Wenn dieselbe Tonne im Elektrostahlwerk mit einer Schrottquote von 100% produziert wird, erfolgt bei CO2-Emissionen von 850kg CO2e/Tonne die Einstufung in die Klassifikationsstufe „D“ und bei 170 kg CO2e/Tonne die Bewertung als „Near Zero“. Als wesentliches Argument für diese Ungleichbehandlung wird die weltweit begrenzte Verfügbarkeit von Stahlschrott genannt.

Die Grundlagen für die Berechnung der Schwellenwerte der einzelnen Klassen von „Near Zero“ bis „D“ werden nachvollziehbar dargestellt. Sie basieren bei der Primärroute (hochofenbasierte oder DRI-basierte Erzeugung) auf virtuellen Referenzanlagen und bei der Sekundärroute (Basis Elektrolichtbogenofen) auf einem Rechenmodell. Grundlegende Basis ist ein Vorschlag der Internationalen Energieagentur (IEA), der weiter angepasst wurde. Als „State of the Art“-Ausgangswert wird für das virtuelle integrierte Hüttenwerk ein CO2-Ausstoß von  2.461 kg CO2e/t Walzstahl, für Qualitätsstahl aus Elektroöfen 790 kg CO2e/t Walzstahl und für die im Aufbau befindliche neue Route DRI-EAF unter heutigen Idealbedingungen ein Wert von 626kg CO2e/t Walzstahl angegeben.

Im Klassifizierungssystem erfolgt für jede Kombination aus spezifischen CO2-Emissionen und Schrottquote eine Kennzeichnung zwischen A und E, wobei trotz einer sehr großen Spanne an Emissionen alle Stufen A bis D als „low emission“ gelten. Die beste erreichbare Stufe mit Werten besser als A ist „Near Zero“. Qualitätsstahl, der in der künftig wohl dominierenden Route DRI-EAF hergestellt wird, muss dafür spezifische CO2-Emissionen von weniger als 544kg pro Tonne Walzstahl erreichen. Damit wird klar, dass das Schlagwort vom „CO2-freien“ Stahl auch unter günstigsten Bedingungen auf absehbare Zeit kaum zu erreichen sein wird.

Bild Quelle: Wirtschaftsvereinigung Stahl

Heute unter speziellen Eigenmarken der Hersteller als „grün“ vermarktete Stähle gehen in den meisten Fällen auf bilanzielle Zuordnungen zurück. Dies bedeutet vereinfacht, dass Emissionsminderungen in den Herstellanlagen, z.B. durch Einsatz von grünen Energien oder Wasserstoff oder von Biokohle anstelle von klassischer Kohle, nur einer Teilmenge der Produktion zugeordnet wird, die dadurch zu (überproportional) besseren CO2-Werten kommt. Dies bleibt in dem neuen System auch künftig möglich, wobei Grundlage immer die Massenbilanz an einem Standort ist.

Die Grundsätze für die Zertifizierung und die Vergabe der Kennzeichnung sind im Regelbuch ebenso ausführlich beschrieben. LESS soll von einem eingetragenen Verein mit Sitz in Brüssel getragen werden. Gründer sind Stahlhersteller. Zertifizierungsunternehmen können sich um eine Anerkennung bewerben, wobei auch eine Integration in bestehende Akkreditierungssysteme möglich ist.

Bewertung: Vorteil für Stahlverbraucher?

Die Veröffentlichung eines Standards für CO2-reduzierte Stähle, der breiten Rückhalt der stahlherstellenden Industrie in Deutschland hat, ist schon für sich alleine vorteilhaft. Denn Unternehmen der Stahlverarbeitung klagen heute darüber, dass sie von ihren Lieferanten keine ausreichenden Informationen über die CO2-Intensität der bezogenen Stähle bekommen oder dass vorgelegte Werte nicht auf vergleichbaren Methodiken beruhen. Mit der Einigung auf einen gemeinsamen Standard könnte sich dies bessern.

Der Nutzen des Systems für Stahlverbraucher hängt aber von den jeweiligen Bedürfnissen ab. Grundsätzlich wird das mit der Einführung proklamierte Ziel, nämlich „die Klimafreundlichkeit des eingesetzten Stahls auf Basis einheitlicher Regeln nachzuvollziehen und in die eigene Nachhaltigkeitsstrategien zu integrieren“, nur bedingt erreicht. Denn mit dem gewählten Ansatz der „Sliding Scale“ wird nicht die absolute Klimafreundlichkeit, sondern nur die relative Position in Abhängigkeit vom Schrotteinsatz dargestellt. Die CO2-Intensität von Stahl aus Elektroöfen liegt heute nur bei ca. einem Drittel des Stahls aus der Hochofenroute. Dieser große Vorteil wird mit dem neuen System ein Stück weit verdeckt.  Andere Kategorisierungen von CO2-reduzierten Stählen wie zum Beispiel die „Nexigen“-Klassifizierung von kloeckner metals, beziehen sich alleine auf die Höhe der CO2-Emissionen und erlauben daher eine schnelle Einschätzung der Klimafreundlichkeit.   

LESS erlaubt daher eher die Bestimmung des Fortschrittsgrads bei der Dekarbonisierung innerhalb einer Erzeugungsroute als die Beurteilung der absoluten CO2-Bilanz. Dies ist zwar aus volkswirtschaftlicher Sicht gerade für Länder mit einem hohen Anteil an hochofenbasierter Stahlerzeugung nachvollziehbar, entspricht aber nicht der Fragestellung aller Stahlkunden.  

Der LESS-Standard verlangt zwar ergänzend auch die Angabe des Product Carbon Footprints (PCF) oder des Global Warming Potential entsprechend einer Umweltproduktdeklaration (EPD). Da momentan kein einheitlicher Standard zur Berechnung des PCF´s vorliegt, kann die Verifizierung nach dem vom Kunden geforderten Standard erfolgen. Die Zuordnung der Emissionen zu den auf den ersten Blick eingängigen Klassifikationsgruppen erfolgt aber alleine auf Basis der „Sliding Scale“.

Stahlverarbeitende Unternehmen, die eine vollständige Bestandsaufnahme des Status Quo und/oder eine schnelle Reduzierung ihres durch den bezogenen Stahl geprägten „Scope 3“-Fußabdrucks anstreben, sollten daher nicht bei der LESS-Kennzeichnung stehen bleiben, sondern sich in erster Linie mit dem PCF beschäftigen. Dies gilt vor allem, wenn die bezogenen Erzeugnisse heute über beide Haupterzeugungsrouten hergestellt werden können. Ebenfalls gilt dies für alle Fälle, in denen Kunden absolute Vorgaben für den PCF des eingesetzten Stahls setzen. Dort werden dann auch die Verarbeitungsstufen nach der ersten Erwärmung oder die Legierungen eines Stahls eine größere Rolle spielen als im LESS-Standard.

Steht aber die mittel- und langfristige Perspektive auf Basis der heutigen Lieferantenstruktur und der technologischen Gegebenheiten im Vordergrund, so bietet der LESS-Standard eine gute Basis. Dieser setzt auf Grundlage der gegebenen Ausgangsbasis ambitionierte und nachvollziehbare Ziele. Denn in Deutschland werden heute mehr als 70% des hergestellten Stahls über die Hochofenroute erzeugt, deren Umstellung auf weniger CO2-intensive Prozesse eine enorme Herausforderung ist. Auf dem Weg dorthin, kann die Qualifizierung von Stahl als „Low Emission“ auch mit noch relativ hohen Emissionen durchaus auch für Stahlverarbeiter von Vorteil sein.    

Im Bereich der öffentlichen Beschaffung wird sich LESS wenigstens in Deutschland sehr wahrscheinlich schnell durchsetzen, nachdem das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) bei der Erstellung und Vorstellung des LESS eine prominente Rolle gespielt hat. Unter dem Stichwort der „Grünen Leitmärkte“ ist damit zu rechnen, dass aus dem Standard mindestens Vorgaben für die öffentliche Beschaffung resultieren werden. Ob darüber hinaus auch politische Vorgaben für die Privatwirtschaft kommen werden, bleibt abzuwarten.

Inwieweit sich LESS als Standard innerhalb der Privatwirtschaft durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Für viele mittelständische Stahlverarbeiter wird die Positionierung ihrer Kunden ausschlaggebend sein. Zumindest auf internationaler Ebene sind Zweifel daran angebracht, dass sich LESS als führender Standard etablieren kann. Denn Länder mit einem hohen Anteil an Elektrostahlwerken an der Stahlerzeugung wie zum Beispiel die USA werden ihren Vorteil nicht aufgeben wollen und mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen eine internationale Verbindlichkeit opponieren.

Stahlverarbeiter müssen Know-How aufbauen

Die CO2-Bilanzierung von Stahl ist alles andere als trivial. Nicht nur die grundsätzliche Methodik und die Auswirkungen der Produktionsprozesse, sondern auch der Einfluss von Güten, Legierungen und der verschiedenen Prozessstufen müssen verstanden werden. Unabhängig von der Frage, ob LESS für jeden Anwendungsfall geeignet ist, sollte der Standard für Stahlverarbeiter der Anlass dafür sein, sich intensiv mit diesen Fragen zu beschäftigen. Denn sowohl auf regulatorischer Seite als auch aufgrund von Marktentwicklungen oder aufgrund der eigenen strategischen Positionierung werden Einzelfragen zu CO2-reduzierten Stählen in den kommenden Jahren massiv an Bedeutung gewinnen. Gerade auch in der internationalen Perspektive wird die Diskussion über Standards und Einordnungen an Fahrt gewinnen. Nur, wer die Grundlagen versteht, kann die Details richtig bewerten und die besten Entscheidungen für das eigene Unternehmen treffen.   

© StahlmarktConsult Andreas Schneider. Verwendung nur mit Quellenangabe erlaubt.

 

 

 

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